"Schreibe kurz - und sie werden es lesen. Schreibe klar - und sie werden es verstehen. Schreibe bildhaft - und sie werden es im Gedächtnis behalten." (Joseph Pulitzer)
STORY.ONE ist eine Literaturplattform, auf der Autor*innen jeglicher Genres (außer Fantasy & Lyrik) Kurzgeschichten zu bestimmten Themen veröffentlichen können.
TEXTPROBEN
[...] Er nahm einen tiefen, langen Zug von seiner Zigarette, wohl wissend, was als Nächstes kam. Er würde sie waschen, er würde sie frisieren, sie in eine große, silberne Plastiktüte stecken, sie über die Kellerstufen hinaus in den Garten schleppen, gleich hinters Haus, und dort würde er sie vergraben, neben den anderen. All den anderen, die geschrien, geweint, getreten hatten. Er würde seine Arbeit ernst nehmen und gut und richtig machen, und dann würde er vielleicht noch eine oder zwei Zigaretten rauchen. Er würde sich den Schweiß von der Stirn wischen, die Schaufel zurück in den Keller stellen, mit seinen dreckigen Händen einen Putzlappen holen. Er würde die Blutspritzer vom Kellerboden reinigen, gründlich und ausgiebig. Er würde den Hammer, mit dem er die Nägel für die Bilder im Wohnzimmer in die Wand und in Schneewittchens Kopf geschlagen hatte, abwischen und in seiner Werkzeugkiste verstauen. Wie er es immer tat. Und dann würde er den Lappen entsorgen, so, wie er Schneewittchen entsorgt hatte. Er würde die Kellertüre hinter seinem Rücken schließen, in seine einsame, verlassene Wohnung hinauf gehen und seine Hände unter fließendem, glasklaren Wasser waschen, klirrend kalt. So kalt, dass er sie kaum noch spüren konnte, die Hände. Und den Schmerz. Denn es schmerzte ihn immer, ein bisschen. Sie gehen zu lassen. Das würde bedeuten, dass er wieder alleine war. Bis zum nächsten Mal.
Als Johanna zu sich kam, hatte sie diesen hohen, langen Piepston im Ohr. Den, den man manchmal vernahm, wenn man zu laut Musik gehört oder inmitten einer Baustelle gestanden hatte. Zwei, dreimal blinzelte sie und rieb sich die Schläfen, dann erst schmeckte sie Blut. „Jo? Johanna, hörst du mir zu?“ Tom stand da, packte sie an den Schultern und schüttelte sie. „Hast du dich wieder geprügelt? Komm schon, sag’s einfach.“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen – und spürte eine Schwellung, dick und schmerzhaft. Langsam kam die Erinnerung zurück. An Georg, diesen Arsch. Und den Kinnhaken, den er ihr verpasst hatte – nachdem sie ihm einen verpasst hatte. Jetzt war Georg weg, und Tom war da. Tom, ihr großer Bruder, der geschworen hatte, auf sie aufzupassen. Tadelnd blickte er ihr ins sommersprossige Gesicht. „Hast du dich wieder geprügelt, Jo?“, wiederholte er schneidend. Seine Haare waren genauso kupferrot wie Johannas, nur nicht so lang. „Und wenn schon“, brummte sie, befreite sich aus seinem Griff und fuhr mit den Fingern über die aufgeplatzte Unterlippe. „Er hat angefangen.“ – „Wer? Georg?“ – „Yep.“ Sie rückte den Kragen ihrer abgetragenen Lederjacke zurecht. „Das verdammte Arschloch hat Adrian eine Schwuchtel genannt.“ – „Und?“ – „Was, und?“ – „Ist er?“ – „Was?“ – „Eine Schwuchtel. Adrian.“ Sie kickte den Stein weg, der am Straßenrand lag. Waren da Blutstropfen drauf? „Es spielt keine Rolle, wer oder was Adrian ist“, brummte sie, „niemand hat ihn zu beleidigen. Schon gar nicht Georg, dieser Wichser. [...]